"Für mich ist Freimaurerei eine egoistische Geschichte"
Irene Podovsovnik
Im Herbst 2022 feiert der österreichische Freimaurerorden für Männer und
Frauen "Le Droit Humain" 100. Geburtstag. Anlass genug, um mit der Präsidentin
des Föderationsrates, Irene Podovsovnik, das Geheimnis der gemischten (geschlechtsübergreifenden)
Freimaurerei zu lüften und zu fragen, warum zum Jubiläum
der Schritt in die Öffentlichkeit gewagt wird. Im Gespräch nimmt Irene
Podovsovnik zu ihrer persönlichen Position über Inhalt und Wesen der Freimaurerei
offen Stellung.
Frau Podovsovnik, warum sind Sie Freimaurer? *)
Im Jahr 1992 bin ich zu der Erkenntnis gelangt,
mit meinen Lebensumständen nicht sehr zufrieden und glücklich zu sein. Im
Zuge einer Ausstellung im Freimaurer-Museum in Rosenau wurde ich bei einer
Führung mit einem Wertesystem konfrontiert und bereichert, das mich hingerissen
hat. Ich dachte mir damals, das will ich. Ich will mich mit Menschen umgeben,
die so denken, ich möchte mich mit diesem System auseinandersetzen.
Bald danach bin ich mit jemandem in Kontakt gekommen, in dessen Umfeld ein
Freimaurer war. Dann habe ich erfahren, dass es auch Frauen in der Freimaurerei
gibt. Von diesem Zeitpunkt an hat es acht Jahre gedauert, bis es so weit war
und mir jemand eine Verbindung zum Droit Humain geschaffen hat. Nach dem
ersten Interview habe ich schon gewusst oder gehofft, dass das mein Weg ist.
Das ist bis heute so geblieben.
Von welchem Wertesystem sprechen Sie?
Gleichberechtigung, Toleranz, Offenheit, Wertschätzung, mit Menschen auf
Augenhöhe kommunizieren. Dass Letzteres in der Freimaurerei Wasserwaage
heißt, habe ich damals noch nicht gewusst. Kein Zynismus, kein von Oben herab,
kein abwertender Umgang mit Leuten, sich wohl fühlen im Alltag, weil das
Gegenüber einen ganzheitlich und ehrlich wahrnimmt und akzeptiert, auch das
gehört zu diesem Wertesystem.
Das sind Werte, die man auch in der profanen Welt verankert wissen
möchte. Die Freimaurerinnen und Freimaurer arbeiten nach einem strengen
strengen Ritual. Welche Bedeutung hat das Ritual für Sie?
Das Ritual ist essentiell. Wenn man mit Ritualen nichts anfangen und sich ihnen
im Laufe der Mitgliedschaft auch nicht annähern kann, kann man gleich in
einen Philosophie-Klub gehen. Wenn man sich bewirbt, weiß man das nicht.
Erst wenn man das erste Mal in einem Tempel steht und das erlebt, was das Geheimnis
ausmacht, dann weiß man, das ist es, oder ist es nicht. Für mich war
in der Sekunde klar, dass es das ist, was ich gesucht habe – auch was Spiritualität
anlangt. Das habe ich ausschließlich in der Freimaurerei gefunden. Das, was
ich an energetischen Verbindungen kenne und empfinde, gibt es für mich nur
im Tempel.
Sie haben das Wort Geheimnis gebraucht. Was ist das Geheimnis?
Das Geheimnis lässt sich nur erleben, indem man beitritt. Man kann sehr viel lesen,
im Internet ist alles abrufbar. Aber das ist schal. Wenn man es liest, erlebt
man es nicht. Es ist eine Kombination aus Energie, die sich entwickelt, aus Inhalten,
die man erlebt, aus einem Miteinander, das ist für mich das Wichtigste.
Im Tempel entsteht nur etwas, wenn mehrere Personen gleichzeitig das Gleiche
wollen. Das kann man nicht vermitteln, das kann man nur erleben. Und dasverändert
sich auch mit der Rolle, die man einnimmt. Ob man passiv als Neuling
aufgenommen wird und nur erleben darf, oder ob man später mitgestaltet.
Das Ritual lebt mit dem Leben desjenigen oder derjenigen, der sich mit dem Ritual
beschäftigt. Und es verändert den Schwerpunkt. Es gibt Sätze im Ritual,
die waren für mich vor zehn Jahren uninteressant, jetzt sind sie wichtig. Es gibt
Sätze, die mich jetzt nicht berühren, und in zehn Jahren werden sie mich berühren.
Es gibt immer etwas Neues, es gibt immer wieder einen neuen Zugang, eine
wieder eine Stütze, eine Krücke für den Alltag, eine Bereicherung, eine spirituelle
Erweiterung. Das ist ein energetisches Thema. Für mich ist es sehr stark.
Würden Sie sagen, dass die Frage des immer wieder Neues erobern, auch
die 33 Grade im Droit Humain erklärt, nach denen die Freimaurer*innen
arbeiten? Oder erlebt man das schon in den ersten drei Graden bis zur
Meisterschaft?
Das ist schwer abschließend zu beantworten. Es gibt Systeme, die mit
den drei Graden ihr Auslangen finden. Es ist eine Frage des philosophischen
Zugangs. Der Droit Humain ist so aufgebaut, dass er in 33 Graden durchgängig
arbeitet. Dabei geht man davon aus, dass man sich immer mehr vertieft, je weiter
man in den Graden hinaufgeht. Ich bin der Meinung, das sind keine Hochgrade,
sondern vertiefende Grade. Damit geht es bei einem selbst in die Tiefe
und nicht hinauf in einem System. Ob das Hochgrad-System nötig ist, um die
Freimaurerei zu verstehen, hängt vom Einzelnen ab. Für mich haben die Hochgrade,
die ich habe, sehr wohl eine Erweiterung gebracht und andere Ebenen
erschlossen. Das Wichtigste ist aber in drei Graden erfasst (Lehrling, Geselle,
Meister, Anm.). Was darüber hinaus geht ist eine Erweiterung, ein Zusatz. Im
DH ist es Teil des Systems, in anderen Obödienzen nicht.
Kommen wir nun zum Jubiläum "100 Jahre Droit Humain in Österreich".
Was wollen Sie darüber als Präsidentin der Föderation vermitteln?
Eine ganze Menge. Es ist großartig, dass es uns 100 Jahre gibt.. Es ist wichtig,
dass es in Österreich ein Alternativ-Programm zu der bekannteren, rein männlichen
Freimaurerei gibt. Mir ist es wichtig, das Jubiläum zu nutzen, um mit unseren
Ideen, die ich primär für jedes einzelne Mitglied für eklatant wichtig halte,
hinaus zu gehen. Dadurch wird ein gewisses Bewusstsein geschaffen und der
Bekanntheitsgrad erhöht. Ich möchte zeigen, wer wir sind, was uns ausmacht,
und was wir können, natürlich unter Wahrung der Geheimnisse. Bis zu einem
gewissen Grad gilt es auch gesellschaftspolitisch zu zeigen, was wir wollen. Der
Droit Humain hat eine andere Botschaft als die männliche Freimaurerei.
Was ist nun die andere Botschaft?
Der Droit Humain ist ein laizistisches System im Gegensatz zur männlichen
Freimaurerei. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und aller Geschlechter,
die Diversität, erlaubt eine gleichberechtigte Zusammenarbeit auf
der spirituellen Ebene. Das macht einen großen Unterschied aus.
Die gemischte Freimaurerei ist in der österreichischen Öffentlichkeit so gut
wie nicht bekannt. Was wollen Sie konkret tun, um sie bekannt zu machen?
Wie wollen Sie in die Gesellschaft hineinwirken?
Die beiden Fragen muss man getrennt betrachten. Was können wir tun, um uns
bekannter zu machen, ist leichter zu beantworten. Das vorliegende Buch ist ein
Beispiel. Auch das Ausstellungsprojekt sowie Medienberichte tragen dazu bei,
eine interessierte Öffentlichkeit zu erreichen. Die Ausstellung ist eine inspirierende
Begegnung mit der Freimaurerei, ein Erlebnis. Man soll ein Gefühl dafür
bekommen, was Freimaurerei ist, auch für den Bauch und das Herz, nicht nur
für den Kopf. Erleben, Wissen vermitteln, Präsentsein, das ist die Intention der
Ausstellung.
Die gesellschaftspolitische Seite ist problematischer, weil auch die Mitglieder
unterschiedliche Zugänge zur Freimaurerei haben. Ich bin bei dieser Frage vorsichtig,
weil ich das, was für mich wichtig ist, nicht über andere stülpen möchte.
Es gibt diesbezüglich keinen Konsens. Das Bewusstsein wird sich möglicherweise
ändern. So weit sind wir aber noch nicht. Es gibt viele, die sagen, es darf
nichts über meine Mitgliedschaft bekannt werden.
Bei aller Vorsicht, warum kommt der Schritt, in die Öffentlichkeit zu gehen,
erst jetzt?
Die Freimaurerei tendiert nicht dazu, in die Öffentlichkeit zu gehen.
Das gilt nicht für alle Länder. In Frankreich, Belgien oder auch in den USA
ist es anders?
In Österreich ist es ein Ergebnis der spezifischen historischen Entwicklung. Die
katholische Prägung des Landes, der Krieg und die damit verbundenen Restriktionen
und Verfolgungen haben dazu beigetragen. Wir haben das noch nicht
überwunden. Weder die männliche Freimaurerei noch die gemischte Freimaurerei.
Bei uns ist es noch immer ein heikles Thema, in die Öffentlichkeit zu gehen.
Zu bekennen, »Ich bin Freimaurer«, ist bei vielen mit Angst verbunden,
Nachteile zu erleiden. Ich habe mir gut überlegt, den Schritt in die Öffentlichkeit
zu gehen.
Wie wollen Sie vermitteln, dass alle Mitglieder des Droit Humain nicht nur
daran arbeiten, individuell bessere Menschen zu werden, sondern auch etwas
in der Gesellschaft zu verändern bzw. verbessern, zum Beispiel Menschenrechte
einzuhalten und zu garantieren? Immerhin heißt Droit Humain
Menschenrechte.
Man muss zwei wesentliche Aspekte unterscheiden. Für mich ist Freimaurerei
eine egoistische Geschichte. Es geht in erster Linie darum, sich selbst zu verbessern.
Erst wenn ich das geschafft habe, kann ich das, was ich für mich selbst gelernt
habe, nach außen tragen. Wenn ich zuerst vor der fremden Türe kehre,
habe ich etwas Wesentliches nicht verstanden. Das ist für mich essentiell. Es
ist viel leichter zu sagen, jetzt verbessere ich irgendetwas Anderes als den eigenen
rauen Stein zu schleifen. Das ist deutlich mühsamer. (Der raue Stein ist in
der Freimaurerei die Metapher für die unvollkommene Persönlichkeit des Menschen
mit all seinen Ecken und Kanten, Anm.).
Der zweite Aspekt unserer Ansprüche ist die Wohltätigkeit. Für manche Mitglieder
ist das wichtig, für andere weniger.
Viele Errungenschaften, wie etwa die amerikanische Verfassung oder auch
das europäische Friedensprojekt, gehen auf das Werk und auf die Initiative
von Freimaurern zurück. Was ist die Nachhaltigkeit der Freimaurerei?
Es sind Prinzipien der Aufklärung, auf denen das ganze System basiert. Das
sollte schon in der Gesellschaft angekommen sein. Aber man bewegt die Welt
nicht nur, in dem man freimaurerische Gedanken verbreitet. Ich bin die falsche Person,
diese Dinge zu beantworten. Mein Zugang zur Freimaurerei ist ein anderer.
Ich komme über die rituelle Seite, über das Zwischenmenschliche. Für mich ist
das nach außen Treten mit seinen sozialen Aspekten nicht das Wichtigste, nicht
mein primärer Zugang. Ich unterstütze es, wenn es jemand macht. Wenn Freimaurer
wohltätig sind, sollen sie aber kein Schild um den Hals tragen. In den
USA ist das anders. Bei uns passiert es bedeckt.
Warum bezieht der Droit Humain in Österreich nicht öffentlich Stellung,
wenn zum Beispiel Grundrechte verletzt werden?
Es gibt immer wieder Ansätze, gesellschaftspolitische Stellungnahmen abzugeben.
Für fast 600 Mitglieder zu sprechen, ist aber problematisch. Man kann
nicht für alle sprechen. In Frankreich wird Stellung bezogen, dort gibt es eine
andere Kultur. Bei uns gibt es nicht bei allen Mitgliedern das Bedürfnis, hinauszugehen.
Freimaurerei ist bei uns noch immer eine höchst private Angelegenheit.
Mit dem 100-Jahr-Jubiläum gehen wir nach außen, aber es wird trotzdem
keine gesellschaftspolitische Aktivität sein.
Freimaurer zu sein, ist für Sie persönlich Arbeit an sich selbst
und das rituelle
Erleben.
Für mich auf jeden Fall. Das ist die Basis dessen, wo ich dann im Kleinen oder
im Großen tätig sein kann. Zum Beispiel, mich mit dem Gegenüber besser zu
verstehen. Jedem ist es selbst überlassen. Ich will es niemanden vorschreiben
wollen.
Ist das Vehikel das Ritual oder das Gegenüber?
Für mich ist es beides. Es ist in erster Linie das Ritual, weil es die Basis schafft.
Erst durch die Begegnung im Tempel, im Ritual, bekomme ich mit meinen Geschwistern
(Freimaurer bezeichnen sich gegenseitig als Bruder, Schwester oder
neutral als Geschwister, Anm.) die Verbindung, die mir dann das Arbeiten miteinander
und an sich selbst erst ermöglicht. Dadurch habe ich einen energetischen
Untergrund. Aus dem wächst dann mehr.
Der Droit Humain ist ein gemischter Orden, von rund 600 Mitgliedern in
Österreich. Rund 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Gibt es Initiativen,
Parität zu erlangen?
Wir arbeiten daran. Das Verhältnis ist historisch bedingt. Nach dem Krieg bis
in die 1980er Jahre gab es nur Frauen im DHÖ (Droit Humain Österreich). Jetzt
wird es immer besser, weil auch immer mehr Männer den Ausschluss einer
Hälfte der Menschheit nicht mehr akzeptieren wollen.
Wie kommt es, dass die Freimaurerei hierzulande so kritisch gesehen wird.
In anderen Ländern outet man sich leichter und schneller?
Wie gesagt, es ist historisch und durch die katholische Prägung bestimmt. Bis
zu einem gewissen Grad geht es dabei auch um eine Self-fulfilling prophecy
(selbsterfüllende Prophezeiung, Anm.), weil wir alle in Panik sind, dass wir uns
schaden könnten. Ich habe ein- oder zweimal die Erfahrung gemacht, dass ich
es gesagt habe – und die Reaktionen waren völlig unaufgeregt.
In der Freimaurerei gibt es mehrere Obödienzen. Gibt es einen Dialog zwischen
den einzelnen Richtungen?
Jeder der Freimaurer ist hat im Grunde dasselbe Ziel. Es ist widersinnig, wenn
jeder das eigene Süppchen kocht. Wir sind heute weiter als vor zehn oder 20
Jahren. Es gibt viele Gespräche und auch gemeinsame Projekte, die ich für sehr
wichtig halte. Die Entscheidung, ob das passiert, liegt aber nicht primär an mir,
sondern an der initiatorischen Spitze des Ordens.
Das Gespräch mit Irene Podovsovnik führten Juliane Jochum und Gertraud
Stern.
*) Irene Podovsovnik legt Wert darauf, als Freimaurer angesprochen zu werden
und diese Bezeichnung nicht zu gendern.