Internationaler Freimaurerorden für alle Menschen Österreich

LE DROIT HUMAIN

DAS MENSCHENRECHT

▩ ▩ ▩ Rundgang: nächster Stein im musivischen Pflaster ▩ ▩ ▩

Der erweiterte Humanismus – ein Auftrag an die Freimaurerei

Die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte – Die Europäische Grundrechtecharta

Lilo Almog

In diesen Dokumenten wird der Kategorische Imperativ programmatisch erfasst als Handlungsanleitung zur ethischen Entscheidung für ein Menschenbild, das Würde, Freiheit und Gerechtigkeit für alle garantiert.
Geboren aus der Mitte unseres alten Kontinents aus dem Geist der Aufklärung, aus unserer Willensentscheidung zum autonomen Individuum.
Das ist immer noch Fundament und Essenz der Botschaft, die zu verbreiten wir Europäer uns berufen fühlen. Auch wenn dieser Anspruch zunehmend hinterfragt und unter den Generalverdacht einer subtilen Form des Kolonialismus gestellt wird scheint es mir geboten daran festzuhalten. Das Bild vom autonomen Individuum, das selbstbestimmt handelt in Wahrung des Respekts vor der Freiheit des Anderen darf nicht aufgeweicht werden durch Unsicherheit und Permissivität.
Die Aufklärung, Matrix unseres Selbstverständnisses, bedient sich des Bildes des Lichts, das in die obskuren Winkel der Unwissenheit vordringt. Dort wird aufgeräumt mit den Fesseln von Angst, Abhängigkeit und Missbrauch. Dieses Licht wendet sich aber nicht nur nach außen, sondern auch auf das Projekt des Erhellens selbst und seine Akteure. Es ist Grundlage und Erfolgsversprechen für einen stetigen Prozess der Erneuerung und der Hoffnung auf den Fortschritt, an den sie glaubt.
Wir sehen also den Zweifel durchaus als konstituierendes Element für den Erfolg des Weltbildes, dem wir uns verschrieben haben. Er ist essentieller Bestandteil unseres Erfolges. Er darf aber nicht zum Anfang unserer Selbstaufgabe werden.
Worauf sollte sich dieser Zweifel nun richten?
Niemals auf den Absolutheitsanspruch der Menschenwürde der Freien und Gleichen.
Sehr wohl auf den Weg, den das aufgeklärte Abendland in den letzten Jahrhunderten beschritten hat:
Gehen wir davon aus, dass Erkenntnis zu gleichen Teilen aus Wissen und Beziehung besteht – aus der Analyse des Objekts und dem Empfinden für sein Da- Sein, seine Möglichkeiten, seine Entfaltung, seine Bedeutung.
Der scharfe und kritische Blick des Verstandes hat eine ungeheure Menge an Wissen aufgehäuft und vermehrt es in jedem Augenblick. Aber der für die Betrachtung notwendige Abstand zwischen Subjekt und Objekt hat das Letztere in einen Abgrund der Funktionalität gestürzt, auf die Höllenfahrt der Ausbeutung und Zerstörung, auf der wir uns nun so scheinbar plötzlich wiederfinden. Wird die Bedeutung des Objekts auf seine Nützlichkeit reduziert, verliert es seinen Platz im Gesamtzusammenhang. Verstoßen wir es aus der Achtsamkeit, so zerreißt das zarte Netz der Beziehungen untereinander und zu uns. So wird das Gewebe des Lebens zerstört, und wir mit ihm.
Kehren wir zurück zu den Maximen des Humanismus der Aufklärung: zu den Grundbedingungen menschlichen Seins gehört der Wunsch nach Ordnung und Sinn. Besonders nach dem berechtigten Verzicht auf die Gottgehaltenheit, welche die zumeist autoritären Religionen und Gesellschaftssysteme doch geboten haben, stellt sich die Frage nach einer neuen Behausung mit Dringlichkeit. Nach der Vertreibung aus dem Hause Gottes gibt es ein neues Herdfeuer, um das sich die aufgeklärte Menschheit scharen kann – den Humanismus. Es ist die Überzeugung, dass das menschliche Maß, für uns alle verbindlich, das Vertrauen rechtfertigt in ethisches Handeln ohne jenseitiges Gericht. Es ist die Überzeugung, dass das Wissen um unser aller Gleichheit uns ermächtigt die Würde des Anderen zu achten. Es ist die Überzeugung so ein ganzheitliches Weltbild anzubieten mit.
Dem Licht des Verstandes und der Wärme der Empathie.
In der Zuwendung zu den Dingen und Zusammenhängen der Welt, die Begeisterung für sie:
Wissen und Empathie
Ordnung und Sinn
Ordnung entsteht aus Analyse und Synthese, Sinn aus Beziehung und Empathie.
Irgendwann und irgendwo ist sie verloren gegangen, die Einheit der Liebe zur Erkenntnis mit der Liebe zum Gegenstand der Erkenntnis. Geopfert der Nützlichkeit – und der Gier.
Diese einseitige Entwicklung hat dazu geführt, dass wir versucht sind auch Menschen wie Maschinen zu sehen, zu verstehen wie Maschinen, zu ersetzen durch Maschinen, zu überbieten von Maschinen. So geht der Mensch verloren als fühlendes, sehnsuchtsvolles, als kunstschaffendes Wesen. Wo Verbindlichkeit fehlt, herrscht Beliebigkeit, die unendliche Ödnis der kulturellen Wüste. So gerät das Projekt des Humanismus in ernste Gefahr.
Kehren wir also zurück zu den Fundamenten, auf denen wir die Säulen der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und die Europäische Grundrechtecharta errichtet haben. Wie immer kann das Ziel einer solchen Rückbesinnung, das Aufsammeln verlorener Bausteine, nur deren Neuordnung und Ergänzung in einem erweiterten Bau sein.
Was vermissen wir?
Den respektvollen und schonenden Umgang mit der Welt, von der und in der wir leben.
Wir verfügen über mehr Wissen als je zuvor über das Funktionieren komplexer Systeme und die gegenseitigen Abhängigkeiten. Aber das Wissen allein reicht nicht. Was kann uns helfen die Hinwendung zu vollziehen, mit Kopf und Herz? Gibt es Modelle, die uns darin unterstützen können, diesen Zugang wieder herzustellen? Nicht nur aus Angst und Bedrohtheit zu handeln, sondern mit Liebe und Fürsorge? Und aus dieser Hinwendung Trost und Kraft zu bekommen? Wärme und Geborgenheit?
Wenn wir die Steine umdrehen, die wir unbeachtet zurückgelassen haben und den Wurzeln nachspähen, die wir nicht gehegt haben, entstehen Bilder einer uralten Welt, Kulturen der Beseeltheit allen Seins, hören wir Erzählungen aus den Vorzeiten der Religionen. Und finden zarte Verästelungen dieser Mythen an den Rändern unserer Gesellschaften bis in die Gegenwart.
Wie immer, wenn das sehnsuchtsvolle Auge sich über die Brunnenschächte des Vergangenen beugt, spiegeln sich in deren Tiefen die eigenen Wünsche – vermischen sich mit der Sicht auf die Schätze in den Wassern. Es ist das Wesen der Erzählung Erfahrung zu bündeln, zum Verständnis und zur Ermächtigung. Es ist ihr Wesen sich zu wandeln durch die ständige Einspeisung der sich wandelnden Zeiten. So wirkt sie auf die Menschen und dadurch auf die Welt, nährt und verändert sich, kann antworten auf die neuen Notwendigkeiten. Auch wenn sie lange und staubig in einer Museumsvitrine gelegen hat, kann sie wieder zum Leben erweckt werden, wenn wir ihr den Atem der Gegenwart einhauchen.
Berührt zu sein von der Poesie einer Welt, in der jede Pflanze bei ihrem richtigen Namen zu nennen heißt ihr Achtung zu erweisen, ihr Wesen und ihre Bedeutung anzuerkennen. Das erlegte Wild um Verzeihung zu bitten, Dank zu sagen, dass es sein Leben gegeben hat, um unseres zu erhalten. Sich vor Bison, Wolf und Rabe zu verneigen in Respekt vor ihrer Kraft, Wenigkeit und Klugheit. Was davon kann uns heute noch weiterhelfen?
/ Dahin zurück können und wollen wir nicht. Die beschwörende Magie zu romantisieren, mit der animistische Gesellschaften einer übermächtigen Natur begegneten, ist ein nettes Spiel in klimatisierten Räumen mit WLAN-Anschluss aber kein realitätstaugliches Konzept für den nun geforderten Umgang mit der Welt. Statt zu kokettieren mit der Poesie des Schreckens gilt es sich aufzurichten für eine Poesie der Verantwortlichkeit und des Erbarmens.
Wir leben im Anthropozän.
Der Mensch ist die Macht, die gestaltet und entscheidet. Wir sind nicht Teil einer Allbeseeltheit, in der wir uns bewegen mit Furcht und Demut. Wir sind die Ausbeuter und potentiellen Zerstörer und suchen nach einer neuen Demut und dem Mitgefühl, das uns und unsere Natur rettet. Unsere Wege sind nicht mehr tastend, sondern wissend. Dieses Wissen kann die Empathie erwecken und lenken, die Empathie, die wir doch ständig in uns tragen und die danach drängt, in kollektiven Bildern zum gemeinsamen Handeln aufzurufen. So viele von uns fühlen – versteckt oder offen – die Sorge und den Schmerz, das Erbarmen mit den vielen kleinen tapferen Leben um uns herum, die uns völlig ausgeliefert sind. Fühlen die Kälte und die Einsamkeit, in der uns der Verlust der Gottgehaltenheit zurückgelassen hat. Sehnen sich nach einer Gemeinschaft der Menschen untereinander und in der Gesamtheit der Biosphäre, nach einem Humanismus, der diese Bezeichnung verdient.
Dieser erweiterte Humanismus verlangt nach wissendem, verantwortungsbewusstem Handeln, das geleitet ist von der Wiederherstellung der Beziehung unter uns und zum Ganzen. Dem Ganzen, das in unserer Hand liegt und uns unser Leben doch erst ermöglicht.
Sich als jede, jeder Einzelne dieser Erkenntnis zu öffnen kann der Beginn einer neuen Erzählung werden. Eine Weitung von Herz und Verstand, die dem Individuum einen Weg zeigt in eine Gehaltenheit im biozentrischen Weltbild. Dieses Wissen zu teilen, mit vielen zu teilen, ist der erste Schritt aus der zornigen Ohnmacht, der Kälte der Einsamkeit, der Ödnis unserer verwüsteten Kultur. Es beginnt damit Einverständnis herzustellen
- über die Bedeutung einer empathischen Beziehung zur Welt
- das Annehmen der Verantwortung als die Gestaltungsmacht im Anthropozän
- die Chance einer sinnstiftenden Geborgenheit im Gesamten der Biosphäre und zielt auf die Weiterentwicklung des Menschenbildes, hin auf einen Humanismus, der zurückführt in das Einverständnis Teil eines größeren Zusammenhangs zu sein, mit dem Wissen, wieviel an Macht zu dessen Erhalt in unsere Hand gegeben ist.
Es ist nicht zu erwarten – und ich denke wir wollen es auch nicht – dass sich daraus eine einzige allgemein verbindliche Erzählung entwickelt, wie sie in den kleinen Gemeinschaften der schamanistischen Kulturen, den Mythen der Alten Welt oder monotheistischen Religionen möglich war. Besonders die Letzteren und andere Ideologien, die ihre Bindungskraft für große Gesellschaften letztlich um den Preis autoritärer bis totalitärer Durchsetzungsmechanismen exerzieren, sind als Modelle unbrauchbar geworden.
Besonders wenn es um die Bestätigung der Freiheit des/der Einzelnen geht kann der erweiterte Humanismus nicht von einem allgemein verbindlichen Mythos ausgehen. Es geht vielmehr um sehr persönliche Bilder und Rituale, um Zusammenschlüsse kleiner Gruppen, die ihre Gemeinsamkeit in konkreten Formen leben, aber mit der Gewissheit über den Grundkonsens der Vielen.
Diese Gewissheit gibt auch die Sicherheit, sich flexibel zu fluiden Netzwerken zusammenzuschließen ohne kadermäßig vereinnahmt zu werden.
Nachdem ich nun ein allgemeines Bild der Neugestaltung unseres Humanismusbegriffes entworfen habe, mit seinen Chancen zum Aufbruch und doch zugleich auch Heimkehr, möchte ich auf ein uns vertrautes Modell hinweisen, das diesbezüglich schon Vorarbeit geleistet hat. Ein Modell, das das Potential hat, zu einem weitgespannten Angebot zu werden.
Als Freimaurerinnen und Freimaurer hüten wir einen Schatz, unser Wissen um die sinnstiftende Macht von Gemeinschaft, Ritual, Symbol und Erzählung. Wir bedienen uns dieser Macht seit unseren Anfängen, um unsere ethische Entscheidung für die Grundlagen des Humanismus, ein Menschenbild der Freien und Gleichen, wirkmächtig leben zu können. Es geht um den ganzheitlichen Anspruch, Geometrie und Empathie, Ordnung und Sinn, Wissen und Empfindung als Eines zu sehen.
Unsere Werkzeuge sind unsere Rituale, unsere Erzählungen, in denen wir uralte Erfahrungen abbilden, um sie in unseren Leben weiterzutragen, sie mit unseren Leben stets neu zu gestalten.
Ich bin von der Wirkmächtigkeit unseres Konzeptes überzeugt und sehe darin auch ein mögliches Angebot für viele, die im zuvor beschriebenen Sinn Möglichkeiten suchen, um den erweiterten Humanismus zu leben.
Nun beschleicht mich aber – und auch Andere – zunehmend das Unbehagen, dass wir in Formalismen zu erstarren drohen. Nicht nur, dass die ehrsamen Gleichnisse der Maurerkunst in einer vom Machbarkeitswahn des Homo Faber zubetonierten Welt an Überzeugungskraft verloren haben. Und es vermutlich des frischen Atems bedarf neben die vertrauten Bilder des Steine-aufeinander- Häufens Bilder des Gärtnerns, des Hegens und Gewährenlassens zu stellen. Dass wir – und auch die gemischt arbeitenden Orden wie der Droit Humain – patriarchalen Gewohnheiten unterworfen sind. Wir beharren auch immer noch auf Herrschaftsstrukturen aus einer Zeit, da Demokratie ein fernes Leuchten war, entweder aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft. Und lassen immer noch zu, dass der hierarchische Anspruch der kultischen Handlung unsere gesamte Verfasstheit kontaminiert. Wir verlassen uns auf Erzählungen, in denen sich diese maskulin-autoritäre Haltung spiegelt. Und ringen oft mühsam darum sie gegen den Strich zu bürsten und ihnen zeitgemäße Interpretationen abzuringen.
Ich gehöre im Droit Humain einem Orden an, dessen Gründerin und Gründer vor 128 Jahren den ungeheuren Mut hatten, ein großartiges aber reformbedürftiges System zu erneuern und den Notwendigkeiten einer veränderten Gegenwart anzupassen. Sie haben ein Modell auf den Weg gebracht, das auf die Herausforderungen einer zunehmend laizistischen Gesellschaft, auf die fortschreitende Globalisierung sowie auf den Anspruch auf Gendergerechtigkeit Antworten angeboten hat. Sie haben darum gerungen, den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie Rechnung zu tragen mit Ritualen, die die Wirkung eines Psychodramas ermöglichen.
Es scheint nun an der Zeit, die nächsten Schritte zu wagen.
In unseren Ritualen und Symbolen ein biozentrisches Weltbild anzusprechen, Bilder zu suchen, die Kraft vermitteln und Gehaltenheit, die unseren Anspruch auf Empathie und Solidarität ausweiten über die menschliche Gemeinschaft hinaus auf alles Leben, das doch das unsere erst ermöglicht. Ich fühle mich sowohl dem bestehenden Orden als auch vielen meiner Geschwister so verbunden, dass ich – vorerst – dazu einladen möchte, unsere bestehenden Formen unter dem neuen Licht des erweiterten Humanismus und der Eingebundenheit im biozentrischen Weltbild zu betrachten. Jede gute Erzählung – und wir haben viele gute! – hat das Potenzial, auch ganz anders gelesen zu werden und nach dem Durchrütteln in neuem Glanz zu erstrahlen. Seit ich damit begonnen habe, mache ich mich mit neuer Lust über die Grade her.
Ich denke, es geht in unserem Rahmen wie in der europäischen Gesellschaft um das Gleiche: Festigkeit im Kern – dem Bestehen auf der Verbindlichkeit der Menschenrechte – aber die Bereitschaft zu haben, diese Verbindlichkeit zu erweitern und sie in fluiden sowie individuellen Bildern und Netzwerken leben zu können.
Für diese Gedanken habe ich innerhalb und außerhalb der freimaurerischen Gemeinschaft viel Interesse gefunden. Die meisten von uns tasten – aber wir tasten ins Licht und in die Wärme.
Schreiten wir voran!