Der erweiterte Humanismus – ein Auftrag an die Freimaurerei
Die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte – Die Europäische Grundrechtecharta
Lilo Almog
In diesen Dokumenten wird der Kategorische Imperativ programmatisch erfasst
als Handlungsanleitung zur ethischen Entscheidung für ein Menschenbild,
das Würde, Freiheit und Gerechtigkeit für alle garantiert.
Geboren aus der Mitte unseres alten Kontinents aus dem Geist der Aufklärung,
aus unserer Willensentscheidung zum autonomen Individuum.
Das ist immer noch Fundament und Essenz der Botschaft, die zu verbreiten
wir Europäer uns berufen fühlen. Auch wenn dieser Anspruch zunehmend hinterfragt
und unter den Generalverdacht einer subtilen Form des Kolonialismus
gestellt wird scheint es mir geboten daran festzuhalten. Das Bild vom autonomen
Individuum, das selbstbestimmt handelt in Wahrung des Respekts vor der
Freiheit des Anderen darf nicht aufgeweicht werden durch Unsicherheit und
Permissivität.
Die Aufklärung, Matrix unseres Selbstverständnisses, bedient sich des Bildes
des Lichts, das in die obskuren Winkel der Unwissenheit vordringt. Dort wird
aufgeräumt mit den Fesseln von Angst, Abhängigkeit und Missbrauch. Dieses
Licht wendet sich aber nicht nur nach außen, sondern auch auf das Projekt des
Erhellens selbst und seine Akteure. Es ist Grundlage und Erfolgsversprechen für
einen stetigen Prozess der Erneuerung und der Hoffnung auf den Fortschritt, an
den sie glaubt.
Wir sehen also den Zweifel durchaus als konstituierendes Element für den
Erfolg des Weltbildes, dem wir uns verschrieben haben. Er ist essentieller Bestandteil
unseres Erfolges. Er darf aber nicht zum Anfang unserer Selbstaufgabe
werden.
Worauf sollte sich dieser Zweifel nun richten?
Niemals auf den Absolutheitsanspruch der Menschenwürde der Freien und
Gleichen.
Sehr wohl auf den Weg, den das aufgeklärte Abendland in den letzten Jahrhunderten
beschritten hat:
Gehen wir davon aus, dass Erkenntnis zu gleichen Teilen aus Wissen und Beziehung
besteht – aus der Analyse des Objekts und dem Empfinden für sein Da-
Sein, seine Möglichkeiten, seine Entfaltung, seine Bedeutung.
Der scharfe und kritische Blick des Verstandes hat eine ungeheure Menge an
Wissen aufgehäuft und vermehrt es in jedem Augenblick. Aber der für die Betrachtung
notwendige Abstand zwischen Subjekt und Objekt hat das Letztere
in einen Abgrund der Funktionalität gestürzt, auf die Höllenfahrt der Ausbeutung
und Zerstörung, auf der wir uns nun so scheinbar plötzlich wiederfinden.
Wird die Bedeutung des Objekts auf seine Nützlichkeit reduziert, verliert es
seinen Platz im Gesamtzusammenhang. Verstoßen wir es aus der Achtsamkeit,
so zerreißt das zarte Netz der Beziehungen untereinander und zu uns. So wird
das Gewebe des Lebens zerstört, und wir mit ihm.
Kehren wir zurück zu den Maximen des Humanismus der Aufklärung: zu
den Grundbedingungen menschlichen Seins gehört der Wunsch nach Ordnung
und Sinn. Besonders nach dem berechtigten Verzicht auf die Gottgehaltenheit,
welche die zumeist autoritären Religionen und Gesellschaftssysteme doch geboten
haben, stellt sich die Frage nach einer neuen Behausung mit Dringlichkeit.
Nach der Vertreibung aus dem Hause Gottes gibt es ein neues Herdfeuer,
um das sich die aufgeklärte Menschheit scharen kann – den Humanismus. Es
ist die Überzeugung, dass das menschliche Maß, für uns alle verbindlich, das
Vertrauen rechtfertigt in ethisches Handeln ohne jenseitiges Gericht. Es ist die
Überzeugung, dass das Wissen um unser aller Gleichheit uns ermächtigt die
Würde des Anderen zu achten. Es ist die Überzeugung so ein ganzheitliches
Weltbild anzubieten mit.
Dem Licht des Verstandes und der Wärme der Empathie.
In der Zuwendung zu den Dingen und Zusammenhängen der Welt, die Begeisterung
für sie:
Wissen und Empathie
Ordnung und Sinn
Ordnung entsteht aus Analyse und Synthese, Sinn aus Beziehung und
Empathie.
Irgendwann und irgendwo ist sie verloren gegangen, die Einheit der Liebe zur
Erkenntnis mit der Liebe zum Gegenstand der Erkenntnis. Geopfert der Nützlichkeit
– und der Gier.
Diese einseitige Entwicklung hat dazu geführt, dass wir versucht sind auch
Menschen wie Maschinen zu sehen, zu verstehen wie Maschinen, zu ersetzen
durch Maschinen, zu überbieten von Maschinen. So geht der Mensch verloren
als fühlendes, sehnsuchtsvolles, als kunstschaffendes Wesen. Wo Verbindlichkeit
fehlt, herrscht Beliebigkeit, die unendliche Ödnis der kulturellen Wüste.
So gerät das Projekt des Humanismus in ernste Gefahr.
Kehren wir also zurück zu den Fundamenten, auf denen wir die Säulen der
Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und die Europäische Grundrechtecharta
errichtet haben. Wie immer kann das Ziel einer solchen Rückbesinnung,
das Aufsammeln verlorener Bausteine, nur deren Neuordnung und
Ergänzung in einem erweiterten Bau sein.
Was vermissen wir?
Den respektvollen und schonenden Umgang mit der Welt, von der und in
der wir leben.
Wir verfügen über mehr Wissen als je zuvor über das Funktionieren komplexer
Systeme und die gegenseitigen Abhängigkeiten. Aber das Wissen allein
reicht nicht. Was kann uns helfen die Hinwendung zu vollziehen, mit Kopf und
Herz? Gibt es Modelle, die uns darin unterstützen können, diesen Zugang wieder
herzustellen? Nicht nur aus Angst und Bedrohtheit zu handeln, sondern mit
Liebe und Fürsorge? Und aus dieser Hinwendung Trost und Kraft zu bekommen?
Wärme und Geborgenheit?
Wenn wir die Steine umdrehen, die wir unbeachtet zurückgelassen haben
und den Wurzeln nachspähen, die wir nicht gehegt haben, entstehen Bilder einer
uralten Welt, Kulturen der Beseeltheit allen Seins, hören wir Erzählungen
aus den Vorzeiten der Religionen. Und finden zarte Verästelungen dieser Mythen
an den Rändern unserer Gesellschaften bis in die Gegenwart.
Wie immer, wenn das sehnsuchtsvolle Auge sich über die Brunnenschächte
des Vergangenen beugt, spiegeln sich in deren Tiefen die eigenen Wünsche –
vermischen sich mit der Sicht auf die Schätze in den Wassern. Es ist das Wesen
der Erzählung Erfahrung zu bündeln, zum Verständnis und zur Ermächtigung.
Es ist ihr Wesen sich zu wandeln durch die ständige Einspeisung der
sich wandelnden Zeiten. So wirkt sie auf die Menschen und dadurch auf die
Welt, nährt und verändert sich, kann antworten auf die neuen Notwendigkeiten.
Auch wenn sie lange und staubig in einer Museumsvitrine gelegen hat, kann
sie wieder zum Leben erweckt werden, wenn wir ihr den Atem der Gegenwart
einhauchen.
Berührt zu sein von der Poesie einer Welt, in der jede Pflanze
bei ihrem richtigen
Namen zu nennen heißt ihr Achtung zu erweisen, ihr Wesen und ihre Bedeutung
anzuerkennen. Das erlegte Wild um Verzeihung zu bitten, Dank zu
sagen, dass es sein Leben gegeben hat, um unseres zu erhalten. Sich vor Bison,
Wolf und Rabe zu verneigen in Respekt vor ihrer Kraft, Wenigkeit und Klugheit.
Was davon kann uns heute noch weiterhelfen?
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Dahin zurück können und wollen wir nicht. Die beschwörende Magie zu
romantisieren, mit der animistische Gesellschaften einer übermächtigen Natur
begegneten, ist ein nettes Spiel in klimatisierten Räumen mit WLAN-Anschluss
aber kein realitätstaugliches Konzept für den nun geforderten Umgang
mit der Welt. Statt zu kokettieren mit der Poesie des Schreckens gilt es sich
aufzurichten für eine Poesie der Verantwortlichkeit und des Erbarmens.
Wir leben im Anthropozän.
Der Mensch ist die Macht, die gestaltet und entscheidet. Wir sind nicht Teil
einer Allbeseeltheit, in der wir uns bewegen mit Furcht und Demut. Wir sind
die Ausbeuter und potentiellen Zerstörer und suchen nach einer neuen Demut
und dem Mitgefühl, das uns und unsere Natur rettet. Unsere Wege sind nicht mehr
tastend, sondern wissend. Dieses Wissen kann die Empathie erwecken
und lenken, die Empathie, die wir doch ständig in uns tragen und die danach
drängt, in kollektiven Bildern zum gemeinsamen Handeln aufzurufen. So viele
von uns fühlen – versteckt oder offen – die Sorge und den Schmerz, das Erbarmen
mit den vielen kleinen tapferen Leben um uns herum, die uns völlig ausgeliefert
sind. Fühlen die Kälte und die Einsamkeit, in der uns der Verlust der
Gottgehaltenheit zurückgelassen hat. Sehnen sich nach einer Gemeinschaft der
Menschen untereinander und in der Gesamtheit der Biosphäre, nach einem Humanismus,
der diese Bezeichnung verdient.
Dieser erweiterte Humanismus verlangt nach wissendem, verantwortungsbewusstem
Handeln, das geleitet ist von der Wiederherstellung der Beziehung
unter uns und zum Ganzen. Dem Ganzen, das in unserer Hand liegt und uns
unser Leben doch erst ermöglicht.
Sich als jede, jeder Einzelne dieser Erkenntnis zu öffnen kann der Beginn einer
neuen Erzählung werden. Eine Weitung von Herz und Verstand, die dem
Individuum einen Weg zeigt in eine Gehaltenheit im biozentrischen Weltbild.
Dieses Wissen zu teilen, mit vielen zu teilen, ist der erste Schritt aus der zornigen
Ohnmacht, der Kälte der Einsamkeit, der Ödnis unserer verwüsteten
Kultur. Es beginnt damit Einverständnis herzustellen
- über die Bedeutung einer empathischen Beziehung zur Welt
- das Annehmen der Verantwortung als die Gestaltungsmacht im Anthropozän
- die Chance einer sinnstiftenden Geborgenheit im Gesamten der Biosphäre
und zielt auf die Weiterentwicklung des Menschenbildes, hin auf einen Humanismus,
der zurückführt in das Einverständnis Teil eines größeren Zusammenhangs
zu sein, mit dem Wissen, wieviel an Macht zu dessen Erhalt in unsere
Hand gegeben ist.
Es ist nicht zu erwarten – und ich denke wir wollen es auch nicht – dass sich
daraus eine einzige allgemein verbindliche Erzählung entwickelt, wie sie in den
kleinen Gemeinschaften der schamanistischen Kulturen, den Mythen der Alten
Welt oder monotheistischen Religionen möglich war. Besonders die Letzteren
und andere Ideologien, die ihre Bindungskraft für große Gesellschaften letztlich
um den Preis autoritärer bis totalitärer Durchsetzungsmechanismen exerzieren,
sind als Modelle unbrauchbar geworden.
Besonders wenn es um die Bestätigung der Freiheit des/der Einzelnen geht
kann der erweiterte Humanismus nicht von einem allgemein verbindlichen
Mythos ausgehen. Es geht vielmehr um sehr persönliche Bilder und Rituale,
um Zusammenschlüsse kleiner Gruppen, die ihre Gemeinsamkeit in konkreten
Formen leben, aber mit der Gewissheit über den Grundkonsens der Vielen.
Diese Gewissheit gibt auch die Sicherheit, sich flexibel zu fluiden Netzwerken
zusammenzuschließen ohne kadermäßig vereinnahmt zu werden.
Nachdem ich nun ein allgemeines Bild der Neugestaltung unseres Humanismusbegriffes
entworfen habe, mit seinen Chancen zum Aufbruch und doch zugleich
auch Heimkehr, möchte ich auf ein uns vertrautes Modell hinweisen, das
diesbezüglich schon Vorarbeit geleistet hat. Ein Modell, das das Potential hat, zu
einem weitgespannten Angebot zu werden.
Als Freimaurerinnen und Freimaurer hüten wir einen Schatz, unser Wissen
um die sinnstiftende Macht von Gemeinschaft, Ritual, Symbol und Erzählung.
Wir bedienen uns dieser Macht seit unseren Anfängen, um unsere ethische Entscheidung
für die Grundlagen des Humanismus, ein Menschenbild der Freien
und Gleichen, wirkmächtig leben zu können. Es geht um den ganzheitlichen
Anspruch, Geometrie und Empathie, Ordnung und Sinn, Wissen und Empfindung
als Eines zu sehen.
Unsere Werkzeuge sind unsere Rituale, unsere Erzählungen, in denen wir
uralte Erfahrungen abbilden, um sie in unseren Leben weiterzutragen, sie mit
unseren Leben stets neu zu gestalten.
Ich bin von der Wirkmächtigkeit unseres Konzeptes überzeugt und sehe
darin auch ein mögliches Angebot für viele, die im zuvor beschriebenen Sinn
Möglichkeiten suchen, um den erweiterten Humanismus zu leben.
Nun beschleicht mich aber – und auch Andere – zunehmend das Unbehagen,
dass wir in Formalismen zu erstarren drohen. Nicht nur, dass die ehrsamen
Gleichnisse der Maurerkunst in einer vom Machbarkeitswahn des Homo
Faber zubetonierten Welt an Überzeugungskraft verloren haben. Und es vermutlich
des frischen Atems bedarf neben die vertrauten Bilder des Steine-aufeinander-
Häufens Bilder des Gärtnerns, des Hegens und Gewährenlassens zu
stellen. Dass wir – und auch die gemischt arbeitenden Orden wie der Droit Humain
– patriarchalen Gewohnheiten unterworfen sind. Wir beharren auch immer
noch auf Herrschaftsstrukturen aus einer Zeit, da Demokratie ein fernes
Leuchten war, entweder aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft. Und lassen
immer noch zu, dass der hierarchische Anspruch der kultischen Handlung
unsere gesamte Verfasstheit kontaminiert. Wir verlassen uns auf Erzählungen,
in denen sich diese maskulin-autoritäre Haltung spiegelt. Und ringen oft mühsam
darum sie gegen den Strich zu bürsten und ihnen zeitgemäße Interpretationen
abzuringen.
Ich gehöre im Droit Humain einem Orden an, dessen Gründerin und Gründer
vor 128 Jahren den ungeheuren Mut hatten, ein großartiges aber reformbedürftiges
System zu erneuern und den Notwendigkeiten einer veränderten Gegenwart
anzupassen. Sie haben ein Modell auf den Weg gebracht, das auf die
Herausforderungen einer zunehmend laizistischen Gesellschaft, auf die fortschreitende
Globalisierung sowie auf den Anspruch auf Gendergerechtigkeit
Antworten angeboten hat. Sie haben darum gerungen, den Erkenntnissen der
Tiefenpsychologie Rechnung zu tragen mit Ritualen, die die Wirkung eines
Psychodramas ermöglichen.
Es scheint nun an der Zeit, die nächsten Schritte zu wagen.
In unseren Ritualen und Symbolen ein biozentrisches Weltbild anzusprechen,
Bilder zu suchen, die Kraft vermitteln und Gehaltenheit, die unseren Anspruch
auf Empathie und Solidarität ausweiten über die menschliche Gemeinschaft
hinaus auf alles Leben, das doch das unsere erst ermöglicht.
Ich fühle mich sowohl dem bestehenden Orden als auch vielen meiner Geschwister
so verbunden, dass ich – vorerst – dazu einladen möchte, unsere bestehenden
Formen unter dem neuen Licht des erweiterten Humanismus und
der Eingebundenheit im biozentrischen Weltbild zu betrachten. Jede gute Erzählung
– und wir haben viele gute! – hat das Potenzial, auch ganz anders gelesen
zu werden und nach dem Durchrütteln in neuem Glanz zu erstrahlen. Seit
ich damit begonnen habe, mache ich mich mit neuer Lust über die Grade her.
Ich denke, es geht in unserem Rahmen wie in der europäischen Gesellschaft
um das Gleiche: Festigkeit im Kern – dem Bestehen auf der Verbindlichkeit der
Menschenrechte – aber die Bereitschaft zu haben, diese Verbindlichkeit zu erweitern
und sie in fluiden sowie individuellen Bildern und Netzwerken leben
zu können.
Für diese Gedanken habe ich innerhalb und außerhalb der freimaurerischen
Gemeinschaft viel Interesse gefunden. Die meisten von uns tasten – aber wir
tasten ins Licht und in die Wärme.
Schreiten wir voran!