Georges Martin 1844 – 1916
Hanne Egghardt
Von den Logen des Droit Humain sind nur vier nach Personen benannt. Während
die Namen "Paracelsus" und "Marianne von Willemer" keine großen Rätsel
aufgeben – Theophrastus Bombastus erfreut sich auch nach 500 Jahren als
großer Arzt, Mystiker und Philosoph allgemeiner Bekanntheit – und wer sich
ein bisschen mit den Amouren des Herrn Geheimrats aus Weimar auskennt,
weiß auch, wer Marianne war. Wer aber war Georges Martin, und wer war Maria
Deraismes?
Georges Martin wurde 1844 in Paris geboren, er war der Sohn eines Apothekers,
gehörte also der gebildeten Mittelschicht an. Nach seiner Ausbildung bei
den Jesuiten begann er Medizin zu studieren. Das war die Zeit, in der gerade
junge Leute leidenschaftlich liberale Ideen entwickelten. Freiheit des Individuums
gegenüber staatlicher Gewalt, Republik, Gleichberechtigung, die Würde
aller menschlichen Wesen, all das waren Themen, die bei dem jungen Studenten
Feuer und Kampfgeist entfachten. Und die noch verstärkt wurden, nachdem
er 1866 in Italien mit Giuseppe Garibaldi zusammentraf. Von da an engagierte er
sich drei Jahre lang als Truppenarzt bei der Eroberung des Veneto.
Sein Studium der Medizin setzte Martin trotzdem bis zu seiner Promotion
1870 fort. Zehn Jahre lang übte der kleine, mit seinem langen blonden Bart und
seinem langen Haar, seiner sanften und nachdenklichen Art an Jesus Christus
erinnernde Mann in der Folge seinen Beruf als »Arzt der Armen« aus, aber nicht
nur das. Er war politisch aktiv, organisierte republikanische Aktionen im Quartier
Latin und Treffen in den Arbeitervorstädten. Seinen liberalen und republikanischen
Überzeugungen folgend, begründete er 1866 einen »Gesundheitsdienst
« und ging schließlich in die Politik. 1874 wurde er Stadtrat von Paris, zehn
Jahre später Präsident des Generalrates des Départements Seine, und dann Senator
– übrigens der jüngste Frankreichs. Nach einer Wahlniederlage 1890 zog
er sich aus Paris zurück, der Politik aber blieb er treu. Von nun an gehörte er bis
zu seinem Tod dem Generalrat des Départements Loir-et-Cher an.
Georges Martin ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich freimaurerische
Ideen wie Liberalismus, Humanität und Nächstenliebe aktiv praktizieren
lassen. Diese Ideale bestimmten sein Leben, er musste jedoch erkennen, dass es
unendlich schwierig war, sie umzusetzen. Von der Freimaurerei erhoffte er sich
daher Unterstützung bei der Überwindung zahlreicher Hürden. Er trat 1879 in
die Loge Union et Bienfaisance der Grande Loge de France ein und wurde Mitbegründer
der Grande Loge Symbolique Ecossaise de France.
Gerade in diese Zeit fielen schwerwiegende sozialpolitische Veränderungen.
Die allgemeine Schulpflicht war eingeführt, die industrielle Revolution war in
vollem Gange, in allen Städten wuchs die Menge arbeitender, aber armer Menschen,
oft waren es gerade Frauen, die unter Lohnabhängigkeit zu leiden hatten.
Soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit führten dazu, dass es in der Gesellschaft gärte.
In dieser Zeit setzte sich Georges Martin ein hohes Ziel: Die Gleichberechtigung
der Frauen – auch in der Freimaurerei. Was er mit aller Kraft und
Leidenschaft erreichen wollte, war "… dass Männern und Frauen weltweit in
gleichem Maße soziale Gerechtigkeit zuteil wird im Kreis einer Menschheit, die in
freien und brüderlichen Gesellschaften organisiert ist …".
Vom Jahr 1880 an bemühte er sich darum, die Aufnahme von Frauen in die
männliche Freimaurer-Obödienz durchzusetzen. Am 14. Jänner 1882 schien er
am Ziel. Dank seiner Hilfe und in seinem Beisein wurde Maria Deraismes, eine
"Freidenkerin", die mit Gleichgesinnten einen ersten antiklerikalen Kongress
organisiert hatte, in die Loge "Les Libres Penseurs" in Le Pecq aufgenommen,
die sich zuvor von der Grand Loge Symbolique Ecossaise de France losgesagt
hatte. Damit war der Durchbruch gelungen, Maria Deraismes war die erste Frau
in der Freimaurerei! Die Freude hielt allerdings nicht lange an. Die Kühnheit,
eine Frau einzuweihen, führte zu heftigen Protesten. Die Loge kehrte zur ausschließlich
männerdominierten Grand Loge zurück.
Georges Martin und Maria Deraismes aber gaben nicht auf. Zehn Jahre lang
dauerten ihre unermüdlichen Anstrengungen, auch Frauen einen Zugang zur
Freimaurerei zu ermöglichen. 1893 endlich war es so weit. Am 4. April 1893 unterzeichneten
sie die Gründungscharta der ersten gemischten Großloge Ordre
Maçonnique Mixte International "Le Droit Humain".
Diese Idee von Georges Martin und seiner Mitstreiterin Maria Deraismes
stieß in den folgenden Jahren zuerst in Frankreich auf positive Aufnahme. Innerhalb
kurzer Zeit entstanden sechs Logen. Der Siegeszug setzte sich rasch
fort. In der Schweiz, in England und in zahlreichen anderen Ländern gab es bald
gemischte Logen. Bis zum Ersten Weltkrieg, der – naturgemäß – eine Unterbrechung
bedingte. Nach dem Krieg, in den 1920er Jahren aber konnte sich Le Droit
Humain in Europa rasch entwickeln.
Gründe, auf Georges Martin stolz zu sein, gibt es viele. Er war ein überaus
gebildeter charakterstarker Mann, dessen Großzügigkeit sogar so weit ging, der
Loge das Haus Jules Breton-Straße im 13. Bezirk von Paris zu schenken, in dem
sich auch heute noch der Hauptsitz von Le Droit Humain International befindet
– dafür "opferte" er übrigens sein gesamtes Vermögen. Er war ein Philanthrop,
ein überzeugter Republikaner, ein Mann mit einem festen, zähen Willen. Sich
für die Rechte von Frauen und Kindern und für die Menschenwürde einzusetzen,
war sein oberstes Gebot.
In diesem Sinn könnte es für uns alle kein besseres Vorbild geben.
Am Grab von Georges Martin 2016:
Während der Zusammenkunft des Obersten Rates im Herbst 2016 nahmen wir die
einmalige Gelegenheit wahr und besuchten anlässlich des 100. Todestages
(1. Oktober 1916) das Grab von Georges Martin.
Nach feierlicher Kranzniederlegung bildeten wir, bekleidet im 33. Grad,
die Kette und fühlten uns stark verbunden.
Gabriele Pfleger